Welt – Türkenrat München Jahrhundertsprozess NSU im Gerichtssaal mit Sami Demirel und Yahya Eker : Schlangestehen für den Jahrhundertprozess

Stunden vor Beginn des NSU-Prozesses füllt sich der Platz vor dem Münchner Justizzentrum. Auf Einlass hoffen Reporter – und Bürger, die Rechtsextreme abschrecken wollen. Auch die “Welt” ist vor Ort.

Er ist die Nummer eins, der Erste in der Schlange. Schon seit kurz nach Mittag am glücklicherweise herrlich warmen Sonntag steht Helmut Sieber vor dem Münchner Justizzentrum in der Nymphenburger Straße.

“Solange Leute wie ich im Gerichtssaal sind, kommen keine Rechtsradikalen herein”, sagt der Rentner aus München, der früher als Anstreicher gearbeitet hat und sich jetzt im Ruhestand um Gefangene kümmert, die in der Psychiatrie sitzen.

Ein Rollkragenpullover, eine braune Cordjacke und immer mal wieder ein heißer Kaffee aus der Thermoskanne – so kommt der 68-Jährige mit den kurzen grauen Haaren durch die Nacht zu Montag, in der das Thermometer irgendwann unter zehn Grad fallen wird.

Zum Glück hat das Gericht wenigstens ein Zelt aufstellen lassen, groß, weiß, mit seitlichen Fenstern, eigentlich ein Partyzelt. Darin, zwischen gelben Gittern, steht ein Häuflein Menschen eine ganze Nacht lang an, um den Beginn des “Jahrhundertprozesses” zu sehen. Zunächst sind es nur wenige, doch von Stunde zu Stunde werden es mehr.

Zehn Morde werden dem NSU zur Last gelegt

Am heutigen Montagmorgen soll endlich die Verhandlung gegen die mutmaßlichen Terroristen und Terrorhelfer des rechtsradikalen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) starten. Zehn Morde, meist an Kleinunternehmern mit türkischem Hintergrund, werden dem NSU zur Last gelegt. Dazu kommen Anschläge und viele Raubüberfälle.

Es ist der Tag, an dem die Blicke vor allem auf Beate Zschäpe gerichtet sein werden, die einzige Lebende der Zwickauer Zelle. Ihre beiden Mitstreiter richteten sich selbst, als sie im November 2011 von der Polizei umzingelt waren. Kurz darauf kam Zschäpe in Haft – und wurde seitdem zu so etwas wie einem Phantom. Es wurde zwar viel über sie geschrieben und viel über sie gesagt, von Nachbarn, Zufallsbekanntschaften aus dem Urlaub. Aber gesehen hat die mutmaßliche Terroristin fast niemand.

Nun steht sie vor Gericht, vor den Hinterbliebenen der Opfer, vor den Zuschauern und Journalisten. Wie wird sie aussehen? Wie wird sie sich halten? Wie wird sie reagieren? Reagiert sie überhaupt auf irgendetwas?

Jahrhundertprozess im kleinen Saal

Rund 250 Plätze hat der umgebaute Gerichtssaal A 101 in diesem alten, heruntergekommenen Justizzentrum aus den 70er-Jahren, das eigentlich schon abgerissen werden sollte, nun aber noch den größten Prozess der jüngeren deutschen Geschichte stemmen muss. Frühestens 2015 wird der geplante Neubau fertig sein.

Nun muss der NSU-Prozess eben im alten Saal, der eigens für 1,25 Millionen Euro umgebaut wurde, über die Runden kommen. Es wird mehr schlecht als recht gelingen, das ist schon jetzt klar.

Sehr viel mehr wollen bei dem Prozess dabei sein, der zu den wichtigsten in der Geschichte der Bundesrepublik gezählt wird. Wochenlang sorgte die Platzvergabe für Journalisten für Querelen. Viele haben keinen Platz bekommen. Und in dieser Nacht warten vor dem Gebäude deshalb weniger interessierte Bürger wie Helmut Sieber, sondern vor allem Pressevertreter. Sie, und dazu gehören auch Journalisten der “Welt”, versuchen, einen Platz auf der Zuschauertribüne zu bekommen.

Viele Journalisten in der Schlange

Die Stimmung ist heiter, gelassen. Es sieht zunächst nicht so aus, als könnte wahr werden, was manche befürchten – dass sich nämlich Rechtsradikale unter die Zuschauer mischen.

Manche in der Gruppe sinnieren noch einmal über das Platzvergabeverfahren für Journalisten. “Wir hatten in Runde zwei kein Glück”, sagt Bayram Aydin, Redakteur der türkischen Tageszeitung “Zaman”. “Aber was soll’s, in Runde eins waren wir ja auch schon nicht dabei.” Doch von einem Gericht, das Plätze in einer Tombola verlost, will sich der München-Korrespondent der größten Tageszeitung der Türkei nicht abhalten lassen von der Berichterstattung.

Aydin ist deshalb schon um 16 Uhr zum Gericht gekommen und von diesem Zeitpunkt an nicht mehr gewichen von seinem “Platz zwei”. Seine Zeitung hat eine Auflage von einer Million Exemplaren. In Deutschland hätten 30.000 Leser das Blatt abonniert, erzählt er. Beim Prozessauftakt gegen den NSU nicht dabei sein zu können, das kann und will sich Aydin von “Zaman” einfach nicht vorstellen.

Irgendwann am Abend stößt Sami Demerel zur langsam wachsenden Truppe vor dem Gericht, in der sich langsam ein bisschen Reisegruppenfeeling breit macht. Demerel will seinem “Türkenrat” von dem Prozess berichten, einem Zusammenschluss von 20 türkischen Vereinen in München, Kulturvereinen, Fußballklubs, Unternehmervereinen. “Es gibt eigentlich niemanden bei uns, der sich nicht für den Prozess interessiert und wissen will, was dort geschieht.”

Überall Strippen und Stromkabel

Die Nacht ist ruhig, sehr viel ereignisloser, als sich viele wohl vorgestellt haben. Der frühe Zustrom von Schaulustigen ist ausgeblieben, die Polizisten, die rund um das Karree des Justizzentrums patroullieren, haben nichts Aufregendes zu vermelden. So vergehen die Stunden.

Auf dem Vorplatz mit direktem Blick auf den Eingang des Paragrafenturms aus den 70er-Jahren haben die Fernsehteams die Plätze für ihre Kameras mit Klebebändern markiert, überall hängen Strippen, Stromkabel, Versorgungsleitungen. Doch Kameraleute sind keine mehr zu sehen. Nur die Straße ist vollgeparkt mit großen Übertragungswagen, von denen manche leise durch die Nacht surren.

In der Warteschlange fragt man sich, was Zschäpe wohl gerade macht. Ob sie schlafen kann vor solch einem Prozess? Bald schon, in den frühen Morgenstunden, soll sie quer durch die Stadt zum Gericht gefahren werden. Zu ihrem Prozess.

Straffes Programm

Irgendwann, es ist kurz vor 23 Uhr, hält ein schwarzer Van auf der Straße. Ein halbes Dutzend Abgeordnete des türkischen Parlaments will sich einen ersten Eindruck von jenem Ort machen, an dem die individuelle Schuld an der Mordserie verhandelt wird.

Einen festen Platz im Gerichtssaal haben auch die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des türkischen Parlaments nicht. Sie werden allerdings vermutlich, ebenso wie der türkische Botschafter und der türkische Konsul, am Morgen in den Gerichtssaal kommen. Journalist Bayram Aydin hat von Gerichtspräsident Huber erfahren, dass die türkischen Diplomaten persönlich begrüßt und in den Saal begleitet werden sollen. Die Abgeordneten möchten erleben, wie “Gerechtigkeit” hergestellt wird, sagen sie. Gerechtigkeit, nachdem die deutschen Sicherheitsbehörden die Täter über Jahre hinweg eher im kriminellen Ausländermilieu suchten und nicht unter Rechtsextremisten.

Ayan Sefer Üstün ist Vorsitzender des Ausschusses. Das Gremium hat bereits umfangreiche Berichte über das Versagen der Sicherheitskräfte bei der Aufklärung der Morde zusammengestellt. Die bisherige Bilanz des türkischen Politikers fällt am Abend vor dem Prozess kritisch aus: “Die Bereitschaft zur Aufklärung ist da”, sagt Üstün der “Welt” vor dem Gerichtsgebäude. “Aber ob diese reicht, um vermeintliche Hintergründe aufzudecken, die bisher noch unbekannt sind, das wissen wir nicht.”

Das Prozessprogramm ist äußerst straff. Meist soll an drei Tagen in der Woche verhandelt werden. Am heutigen Montag könnte die Anklageschrift verlesen werden. Es ist gut möglich, dass zunächst Befangenheitsanträge gestellt werden. Vielleicht wird der Prozess sogar ausgesetzt? Eigentlich weiß niemand, was an diesem Montag in München passieren wird. Klar ist nur, dass alle Blicke auf diesen Zweckbau gerichtet sein werden.

Im Morgengrauen beginnt das Spektakel. Die Fernsehtechniker wuseln mit ihren Kabeln auf dem Vorplatz des Gerichts herum. Bald schon gibt es die ersten Berichte aus München. Vielleicht sogar vom Prozess. Wenn nicht doch noch etwas Unvorhergesehenes passiert.

 

Quelle : Welt – 06.05.2013 23:26

http://www.welt.de/politik/deutschland/article115905731/Schlangestehen-fuer-den-Jahrhundertprozess.html

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